Jannas Place



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Geschichte über einen Menschen

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Abgeschaltet

Sie saß da auf dem Rondell inmitten all der anderen Menschen. Mit ihrer ausgewaschene Jeans, dem überlangen Pullover und der abgewetzten Jacke unterschied sie sich deutlich von den anderen Passanten, die wohlgekleidet eine nur kurze Shoppingpause auf dem Rondell machten. Sie saß da und las in einem Buch, neben ihr ein gewebter Rucksack. Ihre langen etwas struppig wirkenden Haare verdeckten ihr Gesicht soweit, als sollte niemand einen Blick in ihre Seele erhaschen können. Während ich auf den leeren Platz neben ihr zuging, beobachtete ich sie. Sie schien gar nicht zu lesen, mehr in Gedanken zu sein. Sie sah zu mir hoch. Unmut war in ihren Augen zu erkennen. Unmut darüber, dass jemand ihr zu nahe kam.

Unter ihrem linken Auge zeichnete sich eine halbmondförmige Narbe ab. Diese Narbe - ich konnte mich genau erinnern, ich hatte sie schon einmal gesehen. Es war schon lange her, etwa fünfzehn Jahre ungefähr. An einem See im Stadtpark. Ein paar Kinder fütterten die Enten. Ein kleines etwa fünfjähriges Mädchen stand abseits. Stumm beobachtete es die Enten. Sie hatte etwas merkwürdig Starres an sich. Die Narbe unter ihrem Auge war damals noch frisch. Sie stand da und ihre Augen schienen die Enten zu beobachten, aber ihr Gedanken schienen in einer anderen Welt zu sein. In ihren Händen hielt sie ein Stück altes Brot, was man ihr wohl gegeben hatte, um die Enten zu füttern, aber sie stand nur da - regungslos. Wie abgeschaltet. Und die halbmondförmige Narbe mit ihrem noch frischem Rot schien dieses Bild in mein Gedächtnis mit einer seltsamen Nachhaltigkeit einzubrennen.

Jetzt aber war diese Narbe nur noch durch eine leichte Veränderung der Haut zu erkennen. Ihre Augen blickten mich abweisend an. Ich setzte mich neben sie und blickte einfach entspannt geradeaus, als wäre sie mir völlig egal. Schließlich sah ich zu ihr rüber auf das Buch, was sie aufgeschlagen in ihren Händen hielt und fragte in einem nebensächlich freundschaftlichem Ton:"Was lieste denn da...?" Ich schien den richtigen Ton getroffen zu haben, denn nach einer weiteren kurzen Musterung meiner Person drehte sie den Buchdeckel zu mir und antwortete: "Fromm: Haben oder Sein." In ihrer Stimme war etwas abwartendes misstrauisches. "Fromm ist gut" entgegnte ich ihr. Ich schien das Richtige gesagt zu haben. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Ihre misstrauische Haltung entspannte sich ein wenig. Sie klappte das Buch zu, hielt aber den Zeigefinger als Lesezeichen in dem Buch und ließ sich einfach von der Mittagsonne wärmen. Wir saßen so noch eine ganze Weile zusammen nebeneinander auf dem Rondell, dann stand ich auf, sah sie noch einmal kurz an und verabschiedete mich mit einem "Ciao!".

Von nun ab verbrachte ich jede Mittagspause auf dem Rondell und jeden Mittag traf ich sie dort, setzte mich zu ihr und manchmal wechselten wir ein paar Worte, manchmal war es auch nur ein "Hi" und ein "Ciao".

Einmal brachte ich Kekse mit. Einfache Kekse aus Mürbeteig in großen runden Ringen. Ich bot ihr einen an und nach einem kurzen Zögern nahm sie sich einen. Ich beobachtete sie. Sie kaute lange auf einen Bissen herum. Fast als hätte sie Angst ihn hinunterzuschlucken. Ich ließ die Kekse zwischen uns liegen, aber sie nahm keinen zweiten. Und mir wurde klar, dass sie auch den ersten nur um meiner Freundschaft willen genommen hatte. Ich sah sie sonst nie essen. An einem Tag zeigte sie mir einen Stein, den sie gefunden hatte. Es war ein grüner Malachit und mittendurch war ein Loch gebohrt. "Das ist ein schöner Stein.", sagte ich, "Ein Malachit. Du kannst ihn auch mit einem Lederband um den Hals tragen". "Nein," sagte sie, "man hat ihn mitten durchs Herz gebohrt. Das war nicht gut."
Mir gingen ihre Worte noch am Nachmittag während der Arbeit durch den Kopf. Manchen Menschen sagte man einen Stein anstatt eines Herzens nach - sie sagte einem Stein ein Herz zu ...

Es war eine der ersten Herbsttage. Ein warmer Altweibersommer, aber eben schon merklich in den Herbst hinein. Und mir fiel auf, dass ich fast den ganzen Sommer lang jeden Mittag mit ihr verbracht hatte. Oftmals hatten wir nur gemeinsam auf dem Rondell gesessen und außer dem "Hi" und "Ciao" keine weiteren Worte gewechselt. Viel wußte ich nicht über sie. Ich wußte, dass sie gerne liest und Federn und Steine sammelte. Aber wo und wie sie zB wohnt, wußte ich nicht. Manchmal fragte ich mich schon, ob sie denn überhaupt irgendwo wohnt.

Ich lief auf das Rondell zu und suchte sie dort. Aber diesmal saß sie nicht da. Ich war enttäuscht. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich mich jedesmal auf sie freute, wenn ich zum Rondell ging. Ich sah rüber zur anderen Straßenseite und sah sie dort. Ich hätte ihr gern zugewunken, aber abgesehen davon, dass sie soetwas wohl wieder 'total blöde' gefunden hätte, schien sie auch wieder so in Gedanken, so abwesend zu sein, dass sie mich gar nicht bemerkt hätte. Sie sah zum Rondell rüber und wollte die Straße überqueren. Aber in ihrer Gedankenverlorenheit übersah sie den Lieferwagen, der noch einmal Gas gegeben hatte, um die Ampel noch zu passieren.
Ein vorbeifahrender LKW nahm mir die Sicht zur anderen Straßenseite, aber ich hörte den fast gleichzeitig dumpfen Aufprall und das Quitschen der Reifen - und in mir schien eine ganze Welt wie Glas zu zerspringen ...

Zu Hause legte ich ihren Rucksack und eine ihrer Federn, die sie wohl in ihrer Hand gehalten hatte, auf den Küchentisch.
Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte, ich hatte einfach nur das Gefühl, diese Dinge mitnehmen zu müssen, um sie vor der üblichen Maschinerie des geregelten Ablaufs und der Gleichgültigkeit zu retten. Und es gab auch niemanden, der mir dabei Einhalt gebot.
Irgendwann am nächsten Tag packte ich den Rucksack und die Feder ein und fuhr 824 km zu einer Brücke, wo ich vorher noch nie gewesen war. Von dieser Brücke ging es 143 m in die Tiefe. Ich holte die Feder aus meiner Tasche und hielt sie in der Hand. Ich hatte sie zu Hause unter Wasser gereinigt, den Dreck der Autos und Schuhe abgewaschen und die einzelnen Federn glattgestrichen. Ich erinnerte mich daran, wie sie einmal sagte, sie würde gerne von der Brücke springen. Einmal fliegen.

Die Feder lag auf meiner Hand und bewegte sich zaghaft in dem kleinen Lüftchen. Ein warmer Windstoß ließ sie schließlich auffliegen und durch die Luft gleiten. Unaufhaltsam dem Boden entgegen, von kleinen Auftrieben hin und wieder nach oben wirbelnd.
Alleine, ohne in einer lebender Gemeinschaft, war sie nicht fähig zu fliegen. Fast schwerelos glitt sie dahin - wie eine Feder im Wind ...


Geschrieben unter den Namen Shemena